2024 09 12 Beer 1Sportschützin Jolyn Beer dreht noch eine internationale Ehrenrunde, verfolgt aber längst andere Prioritäten

Da hatte Jolyn Beer angekündigt, dass sie mit den Olympischen Spielen in Frankreich ihre internationale Karriere definitiv beenden werde, und dann das: Die Sportschützin des SV Lochtum wird noch einmal eine Ehrenrunde drehen. Sie ist als Nachrückerin für das Weltcupfinale nominiert worden, das Mitte Oktober ein paar schlappe Flugstunden gen Osten ausgetragen wird. Genauer gesagt in Indien.

Statt Châteauroux, Austragungsort der olympischen Schießwettbewerbe 2024, wird die 30-Jährige in Neu Delhi ihren letzten Schuss mit dem Kleinkalibergewehr abfeuern, ohne spezifische Vorbereitung allerdings. Denn nicht nur gedanklich steckt Jolyn Beer längst in einer neuen Lebensphase, in der sie nach rund 15 Jahren Leistungssport andere Prioritäten setzen will und muss. Doch dazu später.

„Keine Leidenschaft“

Erst einmal richtet sich der Blick zurück. Dass sie eine Weltklasse- Karriere hinlegen würde, habe sie sich nicht vorstellen können, sagt Jolyn Beer: „Der Schießsport war am Anfang nicht mal meine Leidenschaft, es hat sich so ergeben.“ Der Durchbruch gelang ihr im Jahr 2011 in Belgrad, wo sie, damals noch Schülerin am Bad Harzburger Werner- von-Siemens-Gymnasium, mit dem Juniorinnen-Nationalteam die EM-Goldmedaille holte. Mit diesem Erfolg habe sie „eine gewisse Aufmerksamkeit“ bekommen, sagt Jolyn Beer. „Und am Ende macht man das ja auch, um Anerkennung zu bekommen.“

Die holte sie sich in den Folgejahren reichlich ab. Allein acht Medaillen bei Weltmeisterschaften in verschiedenen Kleinkaliberdisziplinen stehen in ihrer Vita, es gab Edelmetall bei Europameisterschaften, dazu kommen die Olympiastarts 2021 und 2024, wobei vor allem der sechste Platz in Tokio in Jolyn Beers persönlichem Ranking ganz oben steht. Ehrenplätze finden auch der erste Weltcup-Sieg 2016 in Bangkok, „als mich niemand auf dem Schirm hatte“ (sie selbst eingeschlossen) und der Sieg beim Weltcup- Finale 2017. Der kam mit Ansage, wie sie erzählt: „Ich bin da mit einem absoluten Sieger-Mindset hingefahren. Ich wusste, dass ich gewinne.“ Ort des Triumphs war Neu Delhi, und insofern hat es einen Dreh, dass sie dort nun wirklich ihre internationale Karriere beendet.

Geplant war dieser Einschnitt seit geraumer Zeit. Spätestens vor anderthalb Jahren sei ihr klar geworden, dass in Frankreich Schluss sein werde. Die Prioritäten änderten sich zusehends. „Zwei Wochen hier, zwei Wochen da“ und das Pendeln zum Training an den Bundesstützpunkt Hannover waren zusehends nicht mehr mit dem Privatleben zu vereinbaren. Mit ihrer Frau Jessica hat sie inzwischen zwei kleine Töchter, ist nach Jahren in Hannover und im Umland nach Vienenburg zurückgekehrt, wo sie ein Haus bezogen hat.

Noch ein Tattoo

Zwischenzeitlich habe sie sogar daran gedacht, noch früher auszusteigen. Letztlich habe sie sich nach einem Gespräch mit dem Bundestrainer durchgerungen, bis Paris 2024 durchzuziehen. Als optisches Statement fügtesie im vergangenen Dezember die Olympischen Ringe ihrer beachtlichen Tattoo- Sammlung zu, auch wenn die Qualifikation zu einer Zitterpartie wurde. Nur der Traum vom olympischen Finale ging nicht auf, das sie als Neunte um einen Platz verpasste. Immerhin: Der letzte Schuss war perfekt, eine 10,8. Viel Zeit, das vermeintliche Karriereende zu zelebrieren, gab es nicht. Ihre Schwester und eine gute Freundin waren zwar vor Ort, ansonsten sei es wie immer nach einem Wettkampf gewesen. „Es geht alles schnell“, sagt Jolyn Beer.

Für sie beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt – und nein, langweilig wird der garantiert nicht. Dem Schützenwesen bleibt sie als Mitglied der Bundesliga-Mannschaft der SB Freiheit aus Osterode erhalten, sie will auch weiter bei deutschen Meisterschaften schießen. Nach Olympia belegte sie bei diesen Rang zwei mit dem Kleinkalibergewehr und war damit so gut wie noch nie. Eine Sportpistole hat sie auch noch zu Hause herumliegen, die sie gern mal ausprobieren würde. Intensiver kann sie sich auch wieder ihrer zweiten großen sportlichen Leidenschaft widmen, dem Fußball. Nach Jahren beim SV Neiletal steht der Fan des Hamburger SV nun bei der Zweiten des SV Wendessen in der Bezirksliga im Tor, nicht nur aus Spaß, wie sie betont. Sie will schon was erreichen. Einmal Leistungssportlerin, immer Leistungssportlerin.

Noch wichtiger aber ist dieses: „Ich bin jetzt 30“, sagt Jolyn Beer, „irgendwann muss man den Berufseinstieg schaffen.“ In Corona-Zeiten hat sie deshalb ein BWL-Fernstudium aufgenommen, vier Semester bleiben noch bis zum Abschluss. Danach sei sie für alles offen. Wer weiß, vielleicht wird es ja auch was mit Medien, arbeitet sie derzeit zusammen mit Schützenkollegen dochan einem Podcast. Vielleicht dreht sich dieser auch mal um das Thema Leistungssport in Deutschland, zu dem sie klare Meinungen hat. Zum Beispiel die, das dieser finanziell besser ausgestattet werden müsse, gleichzeitig aber zu viel Geld im aktuellen System versande. Und dass bei der jährlichen Kaderaufstellung im Deutschen Schützenbund der Proporzgedanke eine Rolle spiele, könne sie nicht nachvollziehen. Themen, bei denen sie sich einbringen will: „Ich habe Interesse daran, dass sich Dinge verbessern.

Viel Wizard gespielt

Sportförderung ist auch so ein Thema. Ihre Karriere war nur möglich, weil sie über die Bundeswehr abgesichert war. „Das hat mir echt den Rahmen geben.“ Aber auch der ist endlich. Ende des Jahres scheidet sie aus der Sportförderkompanie aus und wechselt für einige Jahre in den sogenannten Berufsförderungsdienst.

Auf was sie den vergangenen Jahren gern verzichtet hätte? Das waren die vielen Stunden in diversen Flughäfen dieser Welt. Weil Schützen ihre Waffen mitführen, sind viele Formalien zu erfüllen. Das kann sich hinziehen, in Kairo zum Beispiel auch mal acht Stunden. Vorsichtshalber hatte das deutsche Team immer ordentlich Verpflegung und Kartenspiele dabei. „Wir haben dann eine Runde Wizard nach der anderen gespielt.“ Zum Weltcup- Finale hat Jolyn Beer noch einmal das Kleinkalibergewehr im Gepäck, es kann also am Flughafen ein wenig länger dauern. Danach aber ist wirklich Schluss.

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Die Olympischen Spiele in Tokio, wo sie Rang sechs belegt, stehen im persönlichen Ranking von Jolyn Beer ganz oben.

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Der erste von vielen Empfängen im Lochtumer Schützenheim: Jolyn Beer nach dem Europameistertitel 2011 in Belgrad.

 

Quelle: Goslarsche Zeitung (goslarsche.de)

 

 

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